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Kölner Stadt-Anzeiger vom 9. April 1988

Gefahr in den Trümmern?

Bürger fordern Aufklärung — 2000 Menschen arbeiteten mit Blausäure

 

Von unserem Redakteur Franz Albert Heinen

Kreis Euskirchen/Hellenthal — Stollen, in denen Kampfgasgranaten liegen könnten, Ruinen, sterbende Bäume und Erde, auf der nichts mehr wächst: Die Rede ist nicht von Schlachtfeldern vergangener Zeiten, sondern von einem Gelände an der Südgrenze des Kreises Euskirchen. Nur wenige hundert Meter entfernt markierte Regierungspräsident Franz Josef Antwerpes vor einiger Zeit den südlichsten Zipfel seines Kölner Regierungsbezirks. Auf dem Trümmergrundstück bei Kehr befand sich während des ersten Weltkriegs eine Kampfgas-Munitions... (Anmerkung: Satzfehler der Zeitung) ...satzungstruppen 1920 Restmunition sprengen wollten, flog die ganze Fabrik in die Luft. In den umliegenden Orten wurden durch die Detonation die Dächer von den Häusern gefegt. Später wurde ein Stacheldrahtzaun um das Gelände gespannt — das war‘s dann. Vor kurzem stießen Umweltschützer auf das verwüstete Territorium. In größter Sorge, daß sich in den unterirdischen Kammern der Fabrik immer noch Munition und Kampfgase befinden könnten, wandten sich die besorgten Bürger jetzt an die Bezirksregierung in Trier.

Nachdem unlängst der Kronenburger Filmemacher Dietrich Schubert in einem Beitrag fürs Fernsehen an die ehemalige Munitionsfabrik erinnerte, interessierten sich auch die Grünen für das vollkommen verwahrloste Gelände. Eine erste Besichtigung des praktisch ungeschützten Areals vermittelte gespenstische Eindrücke. Der Stacheldrahtzaun. der das Gelände einmal umgeben hat ist ebenso verkommen wie die Warnschilder. Die Ruinen zweier Fabriksgebäude sind heute noch zu sehen.

Behörden schweigen

Auf Schritt und Tritt stößt man jedoch auf Betonflächen und teils verschüttete Eingänge, die darauf schließen lassen, daß man über unterirdische Räume und Stollen wandert. Fast überall ist der Bewuchs völlig verkrüppelt. Da stehen tote Bäume neben Trümmerflächen, auf denen auch 68 Jahre nach der Explosion nicht einmal Gras gewachsen ist.

Von den Behörden war gestern kurzfristig keine Auskunft über das Fabrikgelände zu bekommen. Weder bei der Kreisverwaltung noch beim Regierungspräsidenten in Trier oder bei der Gemeindeverwaltung waren kompetente Leute erreichbar. Auch war bei den Ämtern gestern nicht zu erfahren, wer der derzeitige Besitzer des Areals ist.

Die Grünen von der Oberen Kyll befürchten, daß nach der Explosion noch Rückstände der Giftgasproduktion auf dem Gelände vorhanden sein könnten. Sie fordern nun die Behörden auf, das Gelände auf entsprechende Gefahren zu untersuchen und die Ergebnisse zu veröffentlichen, um damit das jahrelange Schweigen um die "Pulverfabrik" zu brechen.

Die zu Beginn des ersten Weltkrieges gebaute Munitionsfabrik beschäftigte nach Erinnerung der wenigen noch lebenden Zeitzeugen gegen Kriegsende rund 1500 Männer und 500 Frauen. Sie produzierten teils in oberirdischen Produktionshallen, teils auch in unterirdischen Stollen und Hallen Granaten aller Kaliber, darunter wohl auch Giftgasgranaten, die auf den Schlachtfeldern verschossen wurden.

Noch heute ist die Erinnerung lebendig an "gelbe Lippen" bei den Menschen, die mit dem Sprengstoff "Pikrinsäure" umgehen mußten. Auch das Vieh im tiefer gelegenen Kylltal verendete. nachdem es pikrinverseuchtes Wasser gesoffen hatte. Viele Arbeiter, - meist deutsche, angeblich auch russische ,,Fremdarbeiter" - wurden nach einiger Zeit krank. Sogar von Todesfällen ist die Rede: ,Dat kom vom Pikrin", erinnert sich der Sohn des damaligen Werksschreiners, Anton Kaufmann, der seinem der seinem Vater oft das ,,Mittchen" in die Fabrik brachte.

Pikrinsäure ist laut Brockhaus ein fester hellgelber Stoff, aus dem während des ersten Weltkrieges unter dem Namen "Ekrasit" und "Lyddit" Granatensprengstoff hergestellt wurde. Es handelt sich um einen hochbrisanten Sprengstoff, der um rund 15 Prozent stärkere Wirkung hat als das übliche TNT.

Aber auch die Erinnerung an das Giftgas, mit dem die Granaten gefüllt wurden, ist rund um den Eifelort Kehr noch lebendig. "Blausäure das kannte damals jeder", erklärt Anton Kaufmann. Blausäure (Zyanwasserstoff) ist eine farblose hochgiftige Flüssigkeit. Sie verbreitet deutlichen Bittermandelgeruch.

Baracken und Prunkvillen

Zunächst wohnten die Arbeiter und Arbeiterinnen in den ringsum liegenden Orten, teilweise auch in Behelfsunterkünften an der Fabrik. Später wurden die Unterkünfte auf dem Werksgelände gebaut. Zu den deutschen Arbeitern kamen auch russische "Fremdarbeiter". Während des Krieges wurde eine Bahnlinie von Losheim aus ins Werk verlegt.

,,Op Kehr" entstand schnell neben den beiden Gasthäusern und einem Bauernhof eine regelrechte kleine Stadt. Die Arbeiter lebten in Baracken, die Direktoren in sechs Prunkvillen an der Straße nach Losheim.

Die Bevölkerung der umliegenden Orte wurde jedoch systematisch von der supergeheimen Fabrik abgeschottet. Nur mit Sonderausweis und nach Passieren scharfer Wachen war der Zutritt in die Fabrik möglich.

Mit dem Kriegsende kamen verschiedene Besatzungstruppen, darunter Franzosen und Amerikaner. Diese besetzten die Fabrik und schotteten sie weiterhin von der Bevölkerung ab. Man hörte jedoch allenthalben die Explosionen. wenn in den Sprenggruben auf dem Werksgelände die Munitionsreste vernichtet wurden.

Samstagnachmittags, gegen 14.30 Uhr im Mai 1920, ereignete sich in der Fabrik beim Sprengen von Munition eine gewaltige Explosion, die das gesamte Werk und weite Teile der umliegenden Orte zerstörte. In Hallschlag, Losheim und Kronenburg blieb keine einzige Fensterscheibe ganz. Die Granaten flogen kilometerweit: In der damaligen Gaststätte Braun in Losheim schlug ein Blindgänger durch die Wand ins Haus, der — nach der Entschärfung — noch jahrelang dort zu besichtigen war.

In Hallschlag. wo die Katholiken gerade zur Beichte in die Kirche drängten. als die Explosion das Kylltal erschütterte, sprang Oberpfarrer Heinrich Fins aus dem Beichtstuhl und rief, er müsse "op Kehr, da sei ein großes Unglück geschehen.

Tatsächlich war jedoch - wie durch ein Wunder - nur Sachschaden entstanden.

Kein Mensch wurde verletzt.