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DER SPIEGEL 40/1991 Seiten 81bis 86

 

Giftgas

Faustgroße Klumpen

Eine Region im Ausnahmezustand:

Eifel-Bewohner müssen

Schutzmasken parat haben - eine

Munitionsfabrik wird saniert.

 

Als die Feuerwehrmänner Franz Fittler und Frank Löwe abends an die Tür des Gasthauses Igelmund im Eifeldorf Hallschlag klopfen, dauert es eine Weile, bis sich die Tür öffnet. Das Lokal hat seit einigen Jahren nur noch sonntags zum Frühschoppen für Kartenspieler und Kirchgänger geöffnet, und Wirtin Ulla Igelmund, 82, will sich ,,auch mal ein bißchen ausruhen".

Fittler und Löwe kommen nicht auf ein Bier, sie sind in ungewöhnlicher amtlicher Mission unterwegs: Der betagten Wirtsfrau müssen sie demonstrieren, wie sie sich vor tödlichem Giftgas schützen kann.

Zu diesem Zweck entfaltet Löwe eine graue Plastikhaube mit Sichtfenster und integriertem Schutzfilter. ,,Das Ding", klärt er die alte Frau auf, ,,muß man nur über den Kopf ziehen und die Atemmaske auf Nase und Mund drücken. Ganz einfach." Zum Beweis stülpt sich Löwe blitzschnell die ,,Fluchthaube" über, wie die Maske offiziell genannt wird.

Ulla Igelmund gehört zu den rund 1650 Eifelbewohnern, die derzeit laut Weisung des Mainzer Innenministers Walter Zuber (SPD) auf eine tödliche Gefahr vorbereitet werden: die Bedrohung durch Giftgas.

Schon in den nächsten Tagen beginnt im Grenzland von Belgien, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, beispiellos in der Nachkriegsgeschichte, ein Ausnahmezustand, der mindestens fünf Jahre andauern wird. Weil in der Region hochgefährliche Altlasten aus reichsdeutscher Kriegsproduktion beseitigt werden, muß die Bevölkerung stündlich mit Gasalarm rechnen.

Vorbereitet wurden die schaurigen Pläne von dem Physiker Horst Miska, 47, Referent für Katastrophenschutz im Mainzer Innenministerium. Während des Golfkriegs Anfang des Jahres entwickelte er ein dienstliches Interesse an Nachrichten aus dem Nahen Osten. Besonders beschäftigte sich der Ministerialbeamte mit den Todesfällen mehrerer Israelis, die bei Gasalarm unter ihren Masken erstickt waren. Miska ist als Koordinator des Katastrophenschutzplans verantwortlich für den sicheren Ablauf einer monströsen Bergungsaktion: Westlich der Gemeinde Hallschlag, nur wenige hundert Meter von der belgischen Grenze entfernt, vermuten Experten auf dem etwa 25 Hektar großen Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik mehr als 20 000 Giftgasgeschosse aus dem Ersten Weltkrieg (SPIEGEL 28/1991).

Aus alten Firmen- und Behördendokumenten geht hervor, daß die Amerikaner das Areal 1918 als Depot für Giftgas nutzten. Die chemischen Waffen sollten dort unschädlich gemacht werden.

Am 29. Mai 1920 legten mehrere Explosionen die Fabrik, die auf einem Hügel lag, in Schutt und Asche. Ein Großteil der Munition wurde weiträumig in die Umgebung katapultiert. Viele Geschosse detonierten jedoch nicht, sondern liegen bis heute als gefährliche Blindgänger dicht unter der Erdoberfläche. Jetzt, nach 70 Jahren, wächst die Gefahr, daß sie durchrosten und ihren tödlichen Inhalt freisetzen.

Fachleute wie der Trierer Kampfmittelräumer Horst Lenz rechnen bei der Räumung des Geländes mit allen Kampfstoffen des Ersten Weltkriegs:

Phosgen, Clark I und II sowie S-Lost — allesamt Haut- oder Atemgifte, die schon in geringer Konzentration zu schweren Vergiftungen oder zum Tod führen können.

Anwohner und Behörden hatten sich über Jahrzehnte an das ,,Leben auf dem Pulverfaß" (Zuber) gewöhnt und die Gefahr verdrängt. Doch nun werden sie mit einem Szenario wie aus einem Öko-Thriller konfrontiert.

Vergangene Woche bekamen es die Bewohner der Orte Hallschlag. Ormont, Scheid, Kehr und Büllingen (Belgien) schriftlich: Sie können sich künftig nicht mehr frei bewegen. Aus Merkblättern erfuhren sie, daß ihre Heimat künftig aus drei Gefahrenzonen besteht (siehe Schaubild):

Die C-Zone umfaßt das ehemalige Fabrikgelände und einige eingezäunte Bereiche, zu denen nur die Räumkommandos Zugang haben.

Die B-Zone hat eine Breite von maximal 1,3 Kilometern rund um die C-Zone, das Betreten ist laut Warnschildern ,,nur mit Schutzausrüstung" und nur Bewohnern, Grundstückseigentümern, Lieferanten, Ärzten und Busfahrern jederzeit erlaubt — sie wurden mit Schutzmasken ausgerüstet.

Die A-Zone umfaßt alle Orte im Umkreis von vier Kilometern, dort sind laut Merkblatt des Innenministeriums ,,schlimmstenfalls Reizungen der Augen möglich".

Die rheinland-pfälzischen Bürger in der A-Zone wurden nicht mit Fluchthauben versorgt — dies ist nach Ansicht der Mainzer Katastrophenschützer ,,unnötig". Die Einwohner des nahe liegenden nordrhein-westfälischen Recken Kehr dagegen bekommen Masken — auf Weisung des Düsseldorfer Innenministers Herbert Schnoor (SPD).

Viele Anwohner können noch nicht fassen. wie ihnen geschieht. ,,Wir haben doch als Kinder auf dem Gelände gespielt. und nie ist etwas passiert". erinnert sich der Holzhändler Josef Fuhrt, 58. Er wohnt unmittelbar neben dem ehemaligen Firmenareal.

Die Überreste der Munitionsfabrik, das weiß Fuhrt noch ganz genau, verhalfen vielen Jungs aus der Umgebung zur Aufbesserung ihres Taschengeldes. Sie sammelten Granathülsen und Bombensplitter und verkauften sie an Schrotthändler.

,,Aber von Giftgas", sinnt Ulla Igelmund nach, ,,hat uns damals keiner etwas erzählt." Selbst wenn da etwas liege, sagt sie schicksalsergeben, ,,kann es schlimmer als im letzten Krieg kaum werden".

Andere wollen lieber vorbeugen. Vor allem der Grünen-Kommunalpolitiker Gunther Heerwagen fordert schon seit mehr als drei Jahren immer wieder vehement die Sanierung des Geländes und traktiert die Behörden mit Eingaben und Hinweisen.

Als Heerwagen 1988 faustgroße Klumpen des Sprengstoffs Trinitrotoluol (TNT) fand, mußte die Bezirksregierung reagieren: Das Areal wurde eingezäunt. Nachdem dann auch noch eine extreme Verseuchung des Geländes mit Arsen und TNT nachgewiesen wurde, entschied der Mainzer Innenminister: Die Anlage muß gesäubert werden.

Doch in Hallschlag glauben noch immer viele der Alteingesessenen nicht daran, daß ihre Acker und Wiesen von Kampfstoffen verseucht sind. Maria Fuchs Bewohnerin der B-Zone, hält die Bergungsaktion für reinen ,,Blödsinn und Geldverschwendung". Fuchs: ,,In Hallschlag sind so viele Leute sehr alt geworden‘ da kann doch gar nichts sein.

Es ist doch was da: Zuletzt an Pfingsten wurden 30 halbverrostete Granaten gefunden. Die Hälfte der Geschosse enthält, Indiz für Giftgas, eine Flüssigkeit — die Analyse steht noch aus.

Seitdem macht sich die Angst breit. ,,Mit der Ruhe ist es längst vorbei", beschreibt Ingrid Brämisch, 62, Bewohnerin der B-Zone‘ die Lage. Seit drei Jahren schon warnt 20 Meter von ihrem Haus entfernt ein Schild: ,,Gefahrenbereich — Betreten verboten".

Letzte Woche kamen neue Warntafeln hinzu. Diesmal fiel die Aufschrift, unter einem Totenkopf-Symbol, dramatischer aus: ,,Vorsicht — Lebensgefahr!"

Die Einschränkungen für die Bewohner der B-Zone sind drastisch. So müssen sie immer dann eine Fluchthaube mit sich tragen, wenn sie sich weiter als zwei Minuten vom Haus entfernt aufhalten.

Aufwendig wird es, wenn die Dörfler Besuch erwarten. In diesem Fall müssen sie telefonisch einen Treffpunkt an einer der Zufahrten zur Gefahrenzone vereinbaren, die Gäste dort in Empfang nehmen und ihnen eine Fluchthaube in die Hand drücken. ,,Schon jetzt", klagt Josef Fuhrt. ,,kommen viele Leute aus lauter Angst gar nicht mehr her."

Noch gravierender wirken sich die Schutzvorschriften auf das Alltagsleben aus. Weil es für Säuglinge keine Schutzmasken gibt ließ Katastrophenschützer Miska für den Nachwuchs einer Familie eine Spezialkonstruktion anfertigen. Im Ernstfall müssen Mutter und Kind, wie viele Israelis während des Golfkriegs, unter eine Art Sauerstoffzelt kriechen.

Von Spaziergängen mit dem Kinderwagen innerhalb der B-Zone rät Miska dringend ab. Wollen Mütter künftig mit ihren Sprößlingen ins Freie, sollen sie die B-Zone verlassen.

Mit negativen Folgen für das Familienleben muß auch Fuhrts Sohn Bernhard, 33, rechnen. Bislang brachten er oder seine Frau die zweijährige Tochter und den dreijährigen Sohn häufiger zur Großmutter in der B-Zone. Die freute sich über jeden Besuch des fidelen Nachwuchses.

Folgt Fuhrt allerdings Miskas Empfehlungen, dann werden die Kinder das Haus ihrer Großeltern die nächsten Jahre nicht mehr betreten. Das Risiko wäre im Ernstfall zu groß: Auch für Kleinkinder bis zum Alter von fünf Jahren gibt es keine passenden Masken.

Für sie soll jetzt eine Sonderanfertigung angeschafft werden: Die Kinder müssen im Ernstfall unter eine Art Fönhaube mit Atemrüssel gepackt werden der einen Gasfilter enthält.

Die ,,sicherste Methode", räumt Miska ein, ,,wäre die Evakuierung der Bevölkerung. aber das wollen wir den Leuten doch nicht zumuten". Viele Leute sehen das anders. Ingrid Brämisch hat sogar schon einen Rechtsanwalt eingeschaltet: Der soll durchsetzen, daß ihr das Land bis zum Abschluß der Bergungsaktion ,,eine Wohnung oder ein Hotelzimmer außerhalb der Gefahrenzone bezahlt". Und auch der ortsverwachsene Nachbar Josef Fuhrt meint: ,,Wenn das wirklich so gefährlich ist, wie es auf den Schildern steht, dann müssen die uns hier rausholen."

Unabsehbar wären die finanziellen Folgen für die Landeskasse. Schon die Bergung der Munition durch die Münsteraner Spezialfirma Tauber wird mindestens zehn Millionen Mark kosten. Die komplette Sanierung kann schnell eine dreistellige Millionensumme verschlingen.

Weil sie sich der ,,verrückten Situation" nicht passiv ausliefern wollen, schlossen sich vor allem jüngere Eltern in der ,,Bürger-Interessengemeinschaft Rüstungs-Altlast" (BIRA) zusammen. Die Gruppe will dafür sorgen, daß die ,,Sanierung nicht zu einer ungewissen Belastung für das tägliche Leben wird".

Doch BIRA-Mitglieder konnten bislang nur wenig Sympathien bei den Alteingesessenen erwerben, die Angst haben, der Ruf der Region als Ferienziel könne ruiniert werden. Fuhrt senior weiß: ,,Seit mein Sohn sich so um diese Sache kümmert, ist er bei vielen verschrien." Einige Vereinsmitglieder wurden schon anonym bedroht: Sie würden ihr Engagement ,,noch heftig bereuen". B-Zonen-Bewohnerin Brämisch ist nicht die einzige im Ort, die meint: ,,Die ganze Geschichte macht einen nicht physisch kaputt, sondern psychisch."

Doch als ein besorgter Vater bei einer Bürgerversammlung fragte ob eine ,,Anlaufstelle für psychologische Beratung" eingerichtet werde, stieß er bei den Behördenvertretern auf Desinteresse. Helmut Kraus von der Trierer Bezirksregierung demonstrierte Bürgernähe nach Gutsherrenart: An eine psychologische Betreuung sei nicht gedacht, ,,weil wir sie ganz einfach nicht für erforderlich halten".