NEW Yorker Staats-Zeitung 2.Nov. 1991 Seite 4
"Euch darf man nicht mehr die Hand geben, ihr seid ja vergiftet"
Das schreckliche Erbe des 1. Weltkrieges spaltet ein Eifeldorf
Von Peter Kapern
Hallschlag - eines jener Eifeldörfer, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Ein Schnellimbiß, an dem mittags die durchfahrenden Lastwagenfahrer Schlange stehen, drei Gasthäuser, allesamt zur Mittagsstunde noch geschlossen, eine winzige Nebenstelle der Bundespost, im Wohnzimmer des Postvorstehers untergebracht, und ein Tante-Emma-Laden, wie er in keiner deutschen Großstadt mehr zu finden ist. Röcke, Zwiebeln, Batterien, Unterhemden, Brot und Zeitungen - was es hier nicht zu kaufen gibt, gibt es nirgendwo in Hallschlag zu kaufen. Die 550 Einwohner Hallschlags leben in mustergültigen Häusern, keines höher als zwei Stockwerke, alle einheitlich weiß oder beige getüncht, mit austauschbaren, gepflegten Vorgärten. Auf einem an Pfählen angeschraubten Holzbrett verkünden kleine, bunte Plakate, was in Hallschlag so los ist: Nichts. Wer Mike‘s Mobile Disco hören oder eine Oberkrainer Trachtengruppe tanzen sehen will - darauf weisen die Plakate hin - muß ein paar Orte weiter fahren. Nach Prüm oder nach Daun. Hallschlag - ein Dorf, von dem man vermutet, daß der Dorfpolizist seine Wachrunden auf dem Fahrrad dreht.
In regelmäßigen Abständen von wenigen Minuten fahren aber neuerdings schwere Geländewagen der Bereitschaftspolizei durch den Ort, biegen am Dorfgemeinschaftshaus rechts ab, dort, wo ein gelbes Schild den Weg zur Nachbargemeinde Kehr weist. Die schmale Straße, auf der zwei Autos nur mit aller Vorsicht aneinander vorbeifahren können, führt auf eine Anhöhe. Sie heißt ,,Auf dem Gericht". Von der Kuppe des Hügels aus läßt sich ein Drei-Länder-Eck überblicken. Die weißen Häuser zur Linken stehen in Belgien, der Bauernhof hinter dem Tal zur Rechten steht in Nordrhein-Westfalen und Hallschlag gehört zu Rheinland-Pfalz. Am rechten Rand der Straße nach Kehr: Ein Stacheldrahtzaun. im Abstand von 50 Metern Hinweisschilder:
"Betreten verboten - Gefahrenbereich". Hinter dem Zaun liegt der Grund für die Polizeistreifen. Ein Gelände - 30 Hektar groß. Seit langen Jahren unberührte Wiesen, überwuchert von Sträuchern und Laubbäumen. Sogar seltene Orchideenarten wachsen hier. Und Obstbäume, deren Früchte aber niemand erntet. Eine Idylle - auf den ersten Blick.
Wer trotz des Verbotes über das Gelände spaziert, entdeckt hin und wieder Überreste von Gebäuden. Aus Beton gegossene Bodenplatten, manchmal auch den Rest einer Mauer aus rotem Ziegelstein. Es ist eine Industriebrache, die hier eingezäunt wurde. Aber keine wie die vielen anderen in Deutschland.
Einst war dies das Firmengelände der Espagit AG, einer Munitionsfabrik, in der für die Fronten des Ersten Weltkrieges produziert wurde. Nach dem Ende des Tötens suchten die Sieger dann ein Gelände, auf dem sie die wohl schrecklichste Hinterlassenschaft der Schlachten sammeln und zerstören konnten: Giftgas. Die Amerikaner wurden fündig: Am Rande der Ortschaft Hallschlags auf dem Gelände der Espagit AG.
Von diesem Moment an rollten Eisenbahnwaggons hierher, beladen mit Giftgasgranaten aller kriegführenden Staaten. Im Munitionsdepot wurden sie gelagert, bis zum 29. Mai 1920.
An diesem Tag erschütterten drei heftige Detonationen die Häuser in Hallschlag. Sabotage soll es gewesen sein, berichten die alten Dorfbewohner. Von der Espagit AG blieb bis auf wenige Ruinen nichts übrig. Was aus den Giftgasgranaten geworden ist, das kümmerte niemanden - bis jetzt. Als ein Kommunalpolitiker der Umweltpartei "Die Grünen" bei einem Spaziergang über das Gelände faustgroße Klumpen des Sprengstoffes TNT fand, läuteten bei der Mainzer Landesregierung die Alarmglocken. Das Areal soll jetzt geräumt werden.
Doch was und wieviel dort wirklich verborgen liegt, das weiß niemand genau. Auch nicht Toni Hellbrück, der federführend die Räumarbeiten organisiert .In alten Akten wird von 30000 Giftgasgranaten berichtet, die hier gelagert wurden. Es könnten aber auch 10000 oder 50000 sein, sagt Hellbrück. Und als gehe es um die Zutaten für einen Kuchen, zählt er die, Kampfstoffe auf, die er hier zu finden erwartet: ,,Phosgen, Lost, Clark I, Clark II und Clark III." Mit Metalldetektoren wird das Gelände von Ende November an abgesucht. Über jeder Fundstelle wird dann ein Arbeitszelt aufgebaut. Spezialisten des rheinland-pfälzischen Munitionsräumdienstes wollen die georteten Granaten dann bergen. Rund um das Zelt werden Wasserrohre liegen. Im Falle eines Falles - Giftgasaustritt - kann dann eine Wasserwand rund um das Zelt aufgebaut werden. Das Wasser soll das Giftgas binden und unschädlich machen,
Über das abgesperrte Gelände pfeift ein eiskalter, stürmischer Herbstwind. Und genau dieser Wind jagt den Menschen in Hallschlag Angst ein. Auch Josef Fuhrt. Sein Garten grenzt genau an das abgesperrte Gelände. Er fürchtet sich so sehr, daß seine Nerven blank liegen. "Die kümmert es doch nicht, wenn wir dabei krepieren", platzt es in einem Wutanfall aus ihm heraus. "Die" - das sind die Politiker und Beamten in Mainz. Die haben dafür gesorgt, daß die Türen und Fenster in Josef Fuhrts Wohnzimmer abgedichtet worden sind. Hierhin soll er flüchten, falls bei der Räumung eine Granate leck schlägt. Eine Sirene würde ihn dann warnen. "An den Kamin hat aber niemand gedacht. Der ist nicht abgedichtet worden", wirft er den Mainzer Beamten vor. Immer, wenn er während der Räumungsarbeiten sein Haus verläßt, muß er seine Fluchthaube bei sich haben. Eine gasmaskenähnliche Kunststoffkapuze mit Atemfilter, der 15 Minuten lang Schutz bietet vor Giftgas.
Innerhalb dieser Galgenfrist muß er es bis in sein Wohnzimmer schaffen. "Unmöglich", sagt Josef Fuhrt. Zuweilen arbeite er im Wald, da brauche er mindestens eine halbe Stunde.
"Ich mache mir überhaupt keine Sorgen", sagt Klaus Quetsch sein Nachbar, ein Bauer. In den letzten Jahrzehnten hat er ein paar hundert Granaten auf seinen Feldern an die Oberfläche gepflügt. Nie ist etwas passiert. Seine Schlußfolgerung:
"Alles harmloser Kram". Nur die Sicherheitsvorkehrungen, die stören ihn. Wenn er demnächst Besuch empfangen will, muß er die Gäste ein paar Kilometer entfernt in Empfang nehmen und mit Fluchthauben ausstatten. Ohne die darf niemand zu seinem Haus. Und das voraussichtlich fünf Jahre lang. So lange sollen die Räumarbeiten dauern. "Schon jetzt will mich kaum noch jemand besuchen, die haben alle Angst bekommen". Schlimmer noch die Hänseleien, die er sich gefallen lassen muß, wenn er im Nachbardorf auftaucht. "Euch darf man nicht mehr die Hand geben, ihr seid ja vergiftet".
Klaus Quetsch hat mehr zu verlieren als Freunde. Seine 120 Milchkühe stehen in einem hochmodernen Stall, keine 50 Meter vom Gelände der Espagit AG entfernt. Ob die Molkerei seine Milch noch kauft, wenn in den Medien über das Giftgas berichtet wird? Beruhigung ist deshalb seine Devise.
Verharmlosung nennen es seine Gegenspieler im Dorf. Das sind meist jüngere Bewohner, die den Beamten nicht jedes Wort glauben, skeptisch sind, nachfragen. Etwa, warum zu einer Informationsveranstaltung für Ärzte der Umgebung, die über die Folgen von Giftgaskontakt unterrichtet werden sollten, einige Doktoren gar nicht, dafür aber andere, die längst auf dem Hallschlager Friedhof liegen, eingeladen wurden. Schlamperei bei den Sicherheitsvorkehrungen ist der Grund für ihre Aufmüpfigkeit, Panikmache wird ihnen von der Fraktion der älteren Dorfbewohner wie Klaus Quetsch vorgeworfen. Ein tiefer Graben verläuft quer durch Hallschlag.
Einig sind sich beide Fraktionen derzeit nur in einem Punkt: Die Giftgasgranaten, die ausgegraben werden, sollen hier nicht auch noch gelagert werden. Doch genau das hat die Landesregierung vor. Jedenfalls für ein paar Jahre. Bis auf dem Bundeswehrgelände im schleswig-holsteinischen Munster ein Ofen gebaut worden ist, in dem das Giftgas verbrannt werden kann.