Abschrift aus "Zwischen Venn und Schneifel Heft Nr. 4 April 1986 Seiten 65 bis 67
Die Munitionsfabrik in Hallschlag
Von Josephine Gabriel-Drees
Mit diesem Bericht möchte ich von der Munitionsfabrik in Hallschlag erzählen, von ihrer Entstehung und ihrem Ende.
Sie wurde 1913 auf einem riesigen Gelände in Hallschlag errichtet, dortselbst sollten Pikrin- und Blausäure verarbeitet werden.
Sehr wahrscheinlich wurde diese Fabrik in Voraussicht eines Krieges gebaut; denn im August 1914 waren bei weitem nicht alle Wohnungen zur Unterbringung der Beamten und Arbeiter fertiggestellt.
Vor Kriegsausbruch waren in der Fabrik 70 bis 80 Arbeiter beschäftigt, während des Krieges waren es 500 bis 600.
Im Herbst 1915 wurde unser Vater, Mathias Drees, zum Vorsteher des Bahnhofs Losheim ernannt, wo die ganze Pulverproduktion verladen wurde.
Es war vor allem ein äußerst verantwortlicher und zudem gefährlicher Posten. Unser Vater wurde deshalb trotz seines wehrfähigen Alters (31 Jahre) vom Kriegsdienst befreit. Er hat aber an diesem Bahnhof seine Pflicht durch unermüdliche Arbeit und großes Pflichtgefühl getan.
Von der Fabrik aus wurden alle Waggons, welche mit Granaten beladen waren, vor unserer Wohnung umrangiert, um auf die Staatsgleise hinter dem Bahnhofsgebäude zu gelangen. Diese vollbeladenen Züge fuhren Tag und Nacht zur Front nach Frankreich und besonders nach Verdun.
Aus ganz Deutschland kamen junge Mädchen nach Hallschlag, um an dieser Munition zu arbeiten. Jedoch nach kurzer Zeit, oft schon nach einigen Monaten, trafen sie wieder im Bahnhof ein, um in die Heimat zu fahren. Aber was war mit diesen blühenden Mädchen geschehen? Durch die Blausäure hatten sie ein sehr gelbes Aussehen bekommen und waren durch und durch vergiftet.
Ich selbst habe solche bedauernswerte Mädchen im Bahnhofswartesaal gesehen; sie lagen ohnmächtig auf den Holzbänken; ihre Arbeitskolleginnen bemühten sich verzweifelt, sie aus ihrer Ohnmacht zu rütteln. Diese Szenen haben mich tief erschüttert, und obgleich ich erst 6 Jahre alt war, habe ich sie immer im Gedächtnis behalten.
Unser ganzes Leben an diesem Bahnhof war gefährlich; wir spielten praktisch nur auf den Gleisen vor dem Haus, auf denen der Fabrik und hinter dem Haus auf denen des Staates.
Alle Waggons wurden damals von einem Bremserhäuschen aus gebremst. Mein Bruder hatte sich einmal stolz in einem solchen installiert. Da geriet plötzlich der Zug in Bewegung, und auch in Ludwig kam Bewegung. Schnell mußte er vom Zug abspringen.
Ich erinnere mich noch, daß einmal schräg vor unserer Wohnung ein mit Granaten beladener Waggon stand. Wie diese Granaten sich entzündet hatten, weiß ich nicht; aber sie durchlöcherten die Holzwände und flogen nach allen Seiten. Mein Bruder und ich standen am Fenster und sahen dem Schauspiel zu. Als unsere Mutter merkte, was los war, nahm sie uns schnell vom Fenster weg; denn die Gefahr war zu groß.
Eines Abends stand wieder ein mit Munition vollbeladener Zug im Bahnhof. Die Schaffnerinnen wärmten sich im Wartesaal und waren froh, etwas plaudern zu können. Sie hatten aber total vergessen, die Bremsen anzuziehen.
Da nun die Gleise nach Hallschlag hin leicht abfielen, setzte sich der Zug langsam in Bewegung, um wieder zur Fabrik zurückzufahren.
Unsern Vater traf fast der Schlag; schnell sprang er auf den letzten Waggon, bremste diesen, kletterte weiter von einem Bremserhäuschen zum anderen, bis der Zug zum Stehen kam.
Er erzählte uns oft, daß dies die schrecklichste Stunde seines Lebens gewesen wäre. Es war ja auch nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn solch ein Zug zurückgefahren und aufgeprallt wäre. Anderseits wäre unser Vater zur Rechenschaft gezogen worden und hätte mit schwerer Strafe rechnen müssen.
Aber danach hat es im Wartesaal ein Donnerwetter gegeben, die Bremserinnen stoben auseinander wie die Hühner, unser Vater war schier außer sich vor Schrecken und Aufregung.
Da ich aber mehr wissen wollte über diese Zeit, bin ich vor einigen Tagen mit meiner Tochter Anne-Marie nach Hallschlag gefahren, um eventuell jemanden zu finden, der älter ist als ich und mithin mehr wissen müßte. Ich hatte Glück; denn schon im ersten Hause wohnte ein Herr Johann Schmitz, welcher 82 Jahre alt ist und sich noch an vieles erinnert.
Die Kinder seines Jahrganges sind mit 13 Jahren verpflichtet worden, diese Munitionszüge bis zum Bahnhof Losheim zu begleiten. Sie saßen in den Bremserhäuschen und halfen, die Geschwindigkeit regeln. Wie er sagte, sind sie auch schon mal vor Müdigkeit eingeschlafen.
Da er täglich im Bahnhof Losheim war, kannte er unsern Vater gut und erinnert sich seiner noch genau. Dieses hat mich sehr erfreut und auch gerührt.
Dieser Herr Schmitz hat noch ein fabelhaftes Gedächtnis und konnte mir somit allerhand Angaben machen. Seine Eltern hatten, wie alle Leute im Dorf, Fabrikarbeiter in Kost und Logis. (ca. 15 Personen). Es waren ja bei weitem nicht genug Wohnungen auf dem Fabriksglände.
Nach dem Kriegsende übernahmen die Amerikaner diese Pulverfabrik, und es wurde weitergearbeitet. Aus diesem Grunde befand sich 1920 noch viel Munition dort.
Wie es nun geschah, war es ein Unglück oder Sabotage, ist ungeklärt. Eines Tages im Mai 1920 flog die ganze Fabrik in die Luft.
Meine Schwester Maria und ich spielten gerade auf der Straße, als ein ohrenbetäubendes Krachen losbrach. Die Granaten flogen in alle Richtungen. Unser Vater hat uns gesucht und gegen die Böschung gesetzt, die uns Schutz bot; wir konnten somit nicht getroffen werden. Wir haben große Angst ausgestanden; denn es kamen Einschläge ganz in unserer Nähe. Eine Granate schlug eine tiefe Delle in ein Gleis; eine andere schlug ins Nachbarhaus Braun ein, durchbohrte die Mauer und schaute mit dem Zünder in die Gastwirtschaft. Diese Granate ist später entschärft und als Andenken wieder eingemauert worden.
Mein Bruder Ludwig war an diesem Samstagnachmittag mit seinen Klassenkameraden nach Hallschlag zur Beichte. In dem Moment, als er sich im Beichtstuhl niederkniete und reumütig seine Sünden bekannte, erzitterte die Kirche durch einen fürchterlichen Knall, so als wäre das Weltende gekommen. Der Beichtvater springt vor Schrecken aus dem Beichtstuhl, um nachzusehen, was passiert war. Auf dem Nachhauseweg ist mein Bruder in Scheid noch durch den Luftdruck in einen Graben geschleudert worden. Schließlich ist er doch unversehrt nach Hause gekommen, wo er dann mit uns in einer Böschung Schutz suchte.
Viel schlimmer ist es in Hallschlag zugegangen; diese Ortschaft ist sehr mitgenommen worden.
Eine Granate schlug direkt in die Schmiede der Familie Schmitz ein. Daraufhin hat der Vater Peter Schmitz mit seiner kinderreichen Familie im Hause gegenüber (Gasthaus Igelmund) Zuflucht gesucht. Dieses Haus hatte einen sehr sicheren Keller.
Die ganze Nacht und noch einen Teil des anderen Tages haben sie dort verbracht. In Hallschlag hat es auch Schwerverletzte gegeben, besonders unter den Fabrikarbeitern.
Diese Munitionsfabrik ist nie wieder aufgebaut worden. Unser Bahnhof, in welchem früher Tag und Nacht Betrieb herrschte, ist heute ganz ausgestorben; das Bahnhofsgebäude ist sogar nicht mehr bewohnt.
~s existiert noch eine Gleisspur, welche dem Holztransport vorbehalten ist.
Mit meiner Tochter Anne-Marie habe ich vor kurzem eine Nostalgietour dorthin gemacht: wir waren sehr enttäuscht und traurig, alles so öde und verwahrlost vorzufinden. Auch mußte ich wohl einsehen, daß inzwischen 65 Jahre vergangen sind.
Ich möchte auch an dieser Stelle Herrn Johann Schmitz und seiner Frau für den freundlichen Empfang danken und auch dafür, daß sie so viele gemeinsame Erinnerungen mit mir ausgetauscht haben.
Für mich war es eine Rückschau in meine Kindheit in Losheim, wo wir 5 Jahre gewohnt haben, eine Rückschau in eine Kindheit ohne Romantik, aber eben doch in meine Kindheit.