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Geschichtsverein Prüm zur Veröffentlichung
Birgel, den 7. März 1996
Munitionsfabrik Espagit "Op Kehr"
Wie krank waren damals Kranke?
Im Landboten 20/88 berichtete die Zeitzeugin Josephine Gabriel-Drees in "Die Munitionsfabrik in Hallschlag" von bedauernswerten kranken jungen Arbeiterinnen, die sie nicht nur einmal auf dem Bahnhof in Losheim gesehen hatte "sie lagen ohnmächtig auf den Holzbänken; ihre Arbeitskolleginnen bemühten sich verzweifelt, sie aus ihrer Ohnmacht zu rütteln."
Der Landbote 26/90 gibt eine allgemeine Übersicht über die Geschichte dieser riesigen Fabrik im I. Weltkrieg mit damals zeitweise über 2000 Beschäftigten.
Ein Bericht der damaligen Fabrikpflegerin stellt in Landbote 30/91 authentisch Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterinnen dar.
Im Koblenzer Landeshauptarchiv habe ich kürzlich in einer aufgefundenen Akte "Krankenversicherung der Arbeiter im Kreise Prüm" einen die Fabrik betreffenden Briefwechsel gefunden.
Pfarrer Caspar Wawer ( seit 1894 in Auw, gest. 21.12.1933), in Auw und Roth auch heute noch immer unvergessen, nimmt sich 1918, als Besitzer einer Schreibmaschine, mit bewundernswertem Engagement und viel psychologischem Geschick der Not zweier Espagit-Arbeiterinnen an. Dies mag ein Beispiel sein für sein Wirken, das im Landboten 32, Seite 52, (Vorname Carl ist laut Personalakte im Bistumsarchiv Trier falsch, richtig Kaspar mit "K" obwohl er selbst "C" verwandte) so beschrieben wurde: "Er hat in der Schneifelgemeinde so nachhaltig gewirkt, daß man ihn bis heute nicht vergessen hat, obwohl nur noch ein kleiner Teil der dort lebenden ihn tatsächlich gekannt haben kann."
Der Aktenfund wird ungekürzt wiedergegeben, da er so eindrücklich zeigt, wie (auch) zur damaligen Zeit, Anliegen seitens Behörden behandelt wurden.
Pfarrer Wawer schreibt im Auftrag der ESPAGIT-Arbeiterin Elise Tönnes:
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Prüm, 7. Mai 1918
Beschwerde der Elise Tönnes wegen Nichtzahlung der Krankengelder
an Hochwohlgeboren Königlichen Landrat zu Prüm
Sehr geehrter Herr Landrat!
Am 5. März war ich beim Kassenarzt (Anmerkung: mit Sicherheit Dr. Lang aus Stadtkyll) der sehr starkes Herzklopfen feststellte, er meinte ich arbeite in der Blausäure, was allerdings nicht der Fall. Er verschrieb mir eine Medizin, die die Töller aus Roth mitbrachte. Diese Töller wurde auch krank und ging in der folgenden Woche wieder zum Arzt, Damals war der Herr Doktor noch freundlich, auch in der folgenden Woche ging ich zum Arzt und zwar mit der genannten Töller. Bei dem nächsten Besuch gingen wir wieder zusammen zum Arzt und da verschrieb er uns Pillen für Kopfschmerzen und diese sollten wir in der selben Woche auf dem Werk abholen.
Wir waren aber beide nicht imstande den Weg zu machen um die Medikamente zu holen und gingen deshalb in der folgenden Woche zum Arzt, den wir beim Sektionsleiter fanden. Wir wurden nun von beiden schimpfend und polternd empfangen, wir seien überhaupt nicht krank, wir bekämen kein Krankengeld, weil wir die Sachen nicht abgeholt hatten. Alle unsere Entschuldigungen wurden nicht einmal angehört und der Sektionsleiter klatschte die Türe einfach vor unserer Nase zu und sagte wir sollen mal sehen was wir machen. Der Arzt erklärte wir brauchten nicht mehr zu ihm zu kommen , denn wir wären nicht krank. Untersucht hat uns der Herr Doktor natürlich nicht.
Weil wir aber auch noch nicht arbeiten konnten blieben wir noch 14 Tage zu Hause und wollten dann die Arbeit wieder aufnehmen.
Die Töller ging zuerst zum Arzt. Ihr Krankenschein ist nicht da sie sind nicht krank wurde ihr erregt vom Arzt gesagt. Einige Tage darauf ging ich zum Arzt. Mir wurde in der selben Erregung gesagt, der Krankenschein sei nicht da, auf mein Hinweis, er müsse hier sein, ich müsse ihn vorlegen, gab er mir einen Schein und als ich ihn nachher ansah, da war das der Schein der Töller. Deshalb mußte ich nochmals zum Arzt hin. Da erhielt ich den nachfolgenden Schein der gar kein Wort von der Untersuchung enthält. Auf meine Frage warum ich denn kein Krankengeld bekomme sagte der Arzt wir seien nicht krank gewesen.
Die Töller war so krank, daß der unterzeichnende Pfarrer sie in dieser Krankheit versehen mußte, sie fiel aus einer in die andere Ohnmacht. Jeder der die beiden Mädchen sah frug von selbst seid ihr krank. Die Töller ging nun wieder zur Arbeit hat aber immer noch kein Krankengeld bekommen, wie auch ich.
Auf Verlangen des Vaters nahm ich den Tatbestand wie er mir erzählt wurde auf und bitte im Namen der Eltern und der Mädchen eine gefällige Untersuchung der Sache, denn m.E. muß doch hier Krankengeld bezahlt werden. Die Elise Tönnes unterschreibt den Bericht um damit zu bezeugen, daß sie die volle Wahrheit gesagt habe.
vgu (vorgelesen, genehmigt, unterschrieben)
Anmerkung:
Eine Krankenschwester besuchte die Tönnes und kann bezeugen, daß selbe so krank war, daß sie kaum die Gegenwart der Schwester vernahm.
Beim zweiten Besuch erklärte der Doktor der Tönnes, daß sie nicht weiter auf der Fabrik arbeiten könne, denn sie vertrage es nicht.
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Abschrift:
Auw, Kreis Prüm, 2. Juli 1918
Pfr. Wawer an Landrat Dr. Burggraef
Sehr geehrter Herr Landrat!
Am 7. Mai übersandte Ew. Hochwohlgeboren eine Beschwerde über die Krankenkasse auf der ESPAGIT. Es handelt sich um die Arbeiterinnen Töller und Tönnes beide aus Roth. Ich werde sehr oft gefragt, ob ich noch keine Antwort erhalten hätte und eine solche noch nicht erfolgt, die Leute werden die Sache nicht ruhen lassen und wenn der Sachverhalt wirklich so ist, wie er von den Mädchen dargestellt wird, darf man denselben nicht übel nehmen. Ich möchte also gütigst um Bescheid bitten, den die Leute hier sicher auch ohne mich von höherer Stelle erfahren würden.
Mit vorzüglicher Hochachtung gez. Wawer, Pfr.
Vermerk:
Prüm, 5. Juli 1918
urschriftlich an Herrn Pfr. Wawer in Auw ergebenst zurückgesandt.
Das Ergebnis der Entscheidung ist der Tönnes am 22.v. Monats durch die Post zugestellt worden. gez.
Prüm den 22. Juni 1918
Auf das Schreiben vom 7.Mai 1918
Die in Ihrer gegen die Allgemeine Ortskrankenkasse in Prüm gerichtete Behauptung der Arbeitsunfähigkeit ist durch eine eingeholte Erklärung des Sie s. Zt. untersuchenden Arztes bestritten worden.
Da nach dem Gutachten des Arztes Arbeitsunfähigkeit nicht vorlag, so besteht für die Kasse keine Verpflichtung, Krankengeld zu zahlen.
An Frau Elise Tönnes in Roth, Krs. Prüm
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Auw, den 2.August 1918
An P.T. Direktion der Espagit, Losheim
(Anmerkung: P.T. pleno titulo, mit vollem Titel)
Sehr geehrter Herr Direktor!
Beigefaltet überreiche ich Ihnen eine Correspondenz, aus der Sie zu ersehen belieben, daß ich mich beschwerdeführend an den Herrn Landrat gewandt habe.
Die Zeit ist so ernst und der Arbeit so viel, daß ich eine Beschwerde nicht annahm, wenn ich sie nicht erst geprüft habe, denn mit Lappalien mochte ich die Behörde nicht belästigen. Sie können sich derowegen denken, daß ich mich mit solchem Bescheid nicht zufrieden gebe.daß die beiden Mädchen wirklich krank waren und daß sie nichtimstande waren den Weg nach Losheim zu machen, dessen bin ich selbst Zeuge.
Das eine Mädchen habe ich mit den Sterbesakramenten versehen, es fiel von einer Ohnmacht in die andere. Bei der anderen war eine Krankenschwester. Auch diese war so krank, daß sie geistesabwesend die Besucher nicht erkannte. Wenn ich bei jungen kräftigen Mädchen eine direkte Sterbegefahr nicht annahm, so hielt ich es doch vorsichtiger, die eine zu versehen, weil ja auch ein Herzschlag oder so was eintreten konnte.
Sicher aber ist, daß die beiden Mädchen wirklich krank waren. Sie haben ihr Krankengeld, zudem ja auch der Herr Doktor sie behandelt und ihnen Medizin verschrieben hatte. Man verschreibt doch für Gesunde, wenigstens bei solchen Fällen, keine Medizin.
Ehe ich nun an die höhere Behörde mich wende, will ich Ew. Hochwohlgeboren erst die Sache nochmals zur gefälligen Prüfung vorlegen, um Weiterungen zu vermeiden. Dass die Mädchen nicht krank gewesen, das lasse ich mir nicht so sagen, denn sie waren krank.
Werde ich aber von dem Gegenteil klipp und klar überzeugt durch Gründe und Beweise, dann soll es mir nicht schwerfallen, das auch den Mädchen klar zu machen.
Mit vorzüglicher Hochachtung Ew. Hochwohlgeboren ergebenster Wawer, Pfr.
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Espagit, Losheim Eifel, 4.August 1918
Ehrwürden Pfarrer Wawer, Auw
Ich erhielt Ihr geehrtes Schreiben und beehre mich Ihnen mitzuteilen, daß weder die Gesellschaft noch ich in der Lage sind, in dieser Angelegenheit irgendwie zu intervenieren, da es sich hier um die Ortskrankenkasse in Prüm handelt, die nicht uns, sondern dem Herrn Landrat in Prüm, sowie den ihr sonst vorgesetzten Behörden untersteht.
Ich bin nicht in der Lage, in die Geschäfte der Ortskrankenkasse in Prüm einzugreifen und bin selbstverständlich nicht in der Lage, den von Herrn Landrat Ihnen bereits erteilten Bescheid abzuändern.
Ich bedaure Euer Ehrwürden in dieser Angelegenheit nicht dienlich sein zu können und zeichne,
Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung /gez.
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17. August 1918
Pfr. Wawer an Sr. Hochwohlgeboren den Königlichen Herrn Regierungspräsidenten zu Trier
Beigefaltet überreiche ich Ew. Hochwohlgeboren Abschrift über eine Beschwerde.
Wenn man in der heutigen Zeit eine Beschwerde annimmt, dann wär es doch leichtfertig, selbe ohne jede Prüfung fortzusenden. Es wird behauptet, daß die fraglichen Mädchen n i c h t krank bezw. arbeitsunfähig gewesen seien. Dagegen behaupte ich:
1. Der Arzt selbst hat die Krankheit dadurch bestätigt, daß er einen Krankenschein schrieb und selbe für die kommende Woche bestellte, die Medizin abzuholen.
2. Als sie die Medizin abholen sollte, waren sie so krank, daß ich ein Mädchen mit den Sterbesakramenten versah und das andere kannte nicht einmal die Leute, welche in dem Krankenzimmer erschienen. Zeuge (war) eine Krankenschwester aus Manderfeld und der Unterzeichnete und das ganze Dorf.
3. Als die Tönnes beim Arzt erschien um ihren Krankenschein zu nehmen, sagte er, es sei keiner da. Als nun auch die Töller erschien und darauf drängte, den Schein der anderen, wovon er behauptete, es sei keiner da. Diesen Schein fügte ich den Akten bei und bekam ihn nicht mehr zurück.
Nach der Lage der Sache kann ich mich also unmöglich mit der gegebenen Antwort begnügen und ich muß leider die höhere Instanz anrufen zur erneuten Prüfung, denn solche Fälle machen überaus böses Blut und der moralische Schaden ist sehr groß. Es liegt also auch m.E. im Interesse der Verwaltung, daß die Sache geklärt wird.
Mit vorzüglicher Hochachtung EW.Hochwohlgeboren
C.Wawer, Pfarrer
(Anm. d. Verf.: Vermerk des Regierungspräsidenten auf der RÜCKSEITE)
Der Vorsitzende des Königlichen Versicherungsamtes, Prüm den 12. September
Urschriftlich dem Reg. Präs. in Trier unter Beifügung der Vorgänge zurückgereicht. Es liegt m.E. keine Veranlassung vor, die glaubhaften Angaben des Arztes zu bezweifeln. Um gefl. demnächstige Rücksendung der Unterlagen bitte ich.
Unterschrift
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(Anm. d. Verf. /Vermerk und Entwurf eines Schreibens)
Reg.Präs. Trier an Landrat in Prüm
Trier den (mit Bleistift eingefügt -17.-) Oktober 1918
An den Pfr. Herrn C. Wawer, Hochwürden in Auw, Kreis Prüm
Auf die Eingabe vom 17. August betr. Beschwerde Tönnes wegen Nichtzahlung von Krankengeld.
Nach den vorgenommenen (mit Bleistift durchgestrichen) Feststellungen ist die Tönnes nicht arbeitsunfähig gewesen, sondern, wie der Arzt nachdrücklich bekundet, litt sie nur an Kopfschmerzen, welche aber keinen Anlaß zur Arbeitseinstellung ließen. Weil also eine Arbeitsunfähigkeit nicht vorlag, kommt die Zahlung von Krankengeld auch nicht in Frage. Ich bitte Euer p.p. (Anm. d. Verf.: damit ist Pfarrer Wawer gemeint) die Genannte hiervon auf gütlichen Wegen überzeugen zu wollen.
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Damit endet die Aktenaufzeichnung.
Man kann davon ausgehen, daß die Arbeiterinnen trotz des nachhaltigen Einsatzes von Pfarrer Wawer nie ihr Krankengeld erhalten haben.
Von hohem historischem Interesse ist allerdings, daß erstmals in einem Zeitdokument "Blausäure" (Cyan) erwähnt wurde. Daß im Werk Blausäure verarbeitet worden sei, ist Wissen der Zeitzeugen in der ganzen Umgegend. Dabei unterliefen allerdings einige Fehler. So wurden oft fälschlich die großen Schwefelsäurelager als Blausäuretanks bezeichnet. Überliefert ist auch das auf der Espagit geläufige Krankheitsbild der Cyanose, d.h. der Blauverfärbung der Haut, besonders an Nase und Ohrläppchen.
Auch diese Krankheitssymtome müssen nichts mit Cyan = Blauäure zutun haben, da sie auch beim Umgang mit den Sprengstoffen TNT, DNB und Pikrin gleichermaßen beobachtet wurden.
Pikant ist in diesem Zusammenhang allerdings zu sehen, daß seitens der Landesregierung immer vehement abgestritten wurde, daß in der Munitionsfabrik Giftgasgranaten hergestellt wurden. Auch das vom Bundesumweltamt herausgegebene Kampfstofflexikon aus 1993 gibt an, daß Blausäurekampfstoffe im Ersten Weltkrieg von Deutschland nicht hergestellt wurden. (Im Gegensatz zu England und Frankreich).
Es ist aber sicherlich abwegig anzunehmen, daß bei der Delaborierung (Zerlegung) von Beutegranaten auf der Espagit, die nachweislich ab 1917 begann, etwa Frauen eingesetzt wurden.
Daß in Hallschlag mit Blausäure hantiert worden ist, gibt ein Bericht des Hallschlager Polizeiüberwachungsstelle vom Juli 1920 wieder, der von 28 Fässern (Dicyandiamid) = Blausäureverbindung spricht, die bei der Explosion am 29.5.1920 zerstört wurden.
Im gesamten Reich waren nach Unterlagen des Reichsverwertungsamtes vom 2.1.1919 lediglich 13 Tonnen dieser Substanz an den damaligen Füllstellen bekannt. Die Substanz, eine Art Kunststoff, diente zum möglicherweise zum Einbetten von Schrapnell-Kugeln in Granaten.
Verwertete Akten:
Landeshauptarchiv Koblenz 442/11149, Seiten 237 bis 242
Landeshauptarchiv Koblenz 442/7817
Bundesarchiv Potsdam Akte: Reichsschatzministerium 1428
Bistumsarchiv Trier, Abt. 85 Nr. 1908 (Personalakte Wawer)
Bundesumweltamt Texte 8/93
Landeshauptarchiv Koblenz 442/7817
Seite 530
Die gefährdeten Arbeiter bekommen nach Mitteilung des Gewerbeinspektors Albrecht noch immer täglich 1 ltr. Milch.
Nach Albrecht liegt die ärztlich Behandlung der Kranken sehr im argen. Die Fabrik hat keine eigene Betriebskrankenkasse; die beiden Ärzte der Ortskrankenkasse aber verbringen ihre Zeit hauptsächlich damit sich zu befehden und kümmern sich um die Kranken angeblich wenig. Sie sind sich nur einig, keinen neuen Arzt nach Hallschlag kommen zu lassen.
(Ergebnis der Besichtigung der Zentralaufsichtsstelle beim Kriegsamt Berlin, Mai 1918)
Seite 537 AOK-Prüm
Seite 591
Medizinalrat Dr. Kölsch