Kölnische Rundschau vom 11.Juni 1988
,,Der Onkel warf uns Kinder im hohen Bogen über Zäune"
Bewegte Jahre bis zur Explosion in Kehr
Arbeiter bekamen blaue und gelbe Haut in der Gelbkreuzgas-Fabrik
— Auf dem Berg der Gehenkten
MARIA SCHOLZEN-WILLEMS
Kehr. Weidenhöchst ist der offizielle Flurname des auf 620 Meter gelegenen Ausläufers der Schnee-Eifel, wo vor Beginn des ersten Weltkrieges die Eif1er Sprengstoffwerke errichtet wurden. Zugehörig der damaligen Gemeinde Hallschlag. Kreis Prüm, heute Stadtkyll-Daun liegt die flache Anhöhe am Treffpunkt dreier Kreise:
Prüm, Schleiden und Malmedy (heute Sankt-Vith, Belgien). Begrenzt von der Straße Aachen-Trier, den Ortschaften Losheim, Scheid, Hallschlag, Ormont und Kehr.
Der damalige Direktor Dr. Friederich Esser kaufte gegen 1911-12 von der Gemeinde Hall-schlag das unkultivierte Heidegelände. Einige Namen sind mir vom verwaltenden Aufsichtsrat in Erinnerung geblieben: Utermann, Rautenstrauch, Dr.Holz, Justizrat Tetens und Hirsch. Spätere Direktoren waren die Herren Pröpsting, Metz1er, Knorth und Baxmann. Der Baubeginn lief zugleich mit dem Bahnbau Strecke Weywertz-Jünkerath, weil eine Normalspur Gleisanschluß nach Losheim unerläßlich war. So war das Werk gleich zu Beginn des 1. Weltkrieges voll produktionsfähig.
Baumeister waren die Herren Schlüter und Kress. Schlüters Materialien waren die herkömmlichen: Ziegel, Schwemmsteine, Holz, Schiefer und Teerpappe. Kress hatte sich dem damals noch weitgehend unbekannten und mit einigem Mißtrauen angesehenen Beton verschrieben. Die Eisenbahnbrücke in Moresnet war das erste seiner Bauwerke in unserer Gegend.
Schlüter baute erst eine Baracke als Unterkunft für seine Arbeiter. Nach einigen Stützungsaktionen steht sie heute noch dicht an der Straße im Ort Kehr. Weiter baute Schlüter den hohen Schornstein, das Kasino, sechs Villen, das Hauptbüro, den Granatbau, das Kesselhaus, eine Halle für Feuerwehr und Sanitäter, die Beamtenbaracke und die Russenbaracke, Unterkunft der arbeitsverpflichteten Kriegsgefangenen.
Streng geheim war das Chemie-Labor
Kress errichtete unter anderem zwei riesige Hallen, Schlosserei und Schreinerei, das Labor, Wohnbaracken und das prächtige Wahrzeichen des Werkes, den Wasserturm. Dazu noch drei Betonkeller mit Erde bedeckt, worin die gefährlichen Sprengstoffe lagerten und ein Säulendach als Unterlage für sechzehn Tausendliter-Fässer Blausäure.
Der imposante Wasserturm umfaßte über festen Kellern zu ebener Erde die Pumpstation, Wohnungen auf zwei Etagen, und höher übereinander die beiden riesigen Wasserbehälter. Ganz oben ein Umlauf mit kleinen Erkerfenstern gestattete eine herrliche Aussicht über Zitterwald und Schneifel bis zur Hohen Acht und dem Siebengebirge am Rhein.
Gleich bei Baubeginn wurde das ganze Gelände mit einem stabilen Zaun versehen. Drei Meter hohe Eisenstangen mit dichtem Stacheldrahtgeflecht bespannt und jeweils in ein Kubikmeter Beton in die Erde eingelassen. An den Ausfallstraßen hohe Eisentore, des Nachts verschlossen, tagsüber von Pförtnern bewacht, Kriegsversehrten und Invaliden. Es gab Tor Kehr, Hallschlag, Scheid, Losheim und in Richtung Ormont ein drahtbewehrtes kleines Holztor ,Urmter Pöörzjen" benannt.
Im Volksmund hieß das Werk irrtümlich Pulverfabrik, aber hergestellt wurde nur das berüchtigte Gelbkreuzgas, später ,,Yperit" genannt. Streng geheim war das Labor des Chemikers Dr. A., der als Erfinder oder Mit-Erfinder dieser verheerenden Waffe galt. Rund um diesen Bau ist heute noch verbrannte Erde.
Die in diesem Bereich arbeitenden Leute waren völlig blau bis zum Weiß ihrer Augen, in der Pikrinabteilung Tätige genau so gelb. Alle mußten nach ein paar Monaten ausgewechselt werden. Haupttätigkeit war das Füllen leerer Granathülsen aller Kaliber bis zu 28 cm Durchmesser, die denn auch bald .in großen Stapeln das Gelände um die drei Verladerampen .belegten. Gasgranaten lagerten in verschlossenen Räumen.
Die Wirkung neuer Sprengstoffe wurde zuerst in der großen Sprenggrube weitab des Werkes ausprobiert. Leider kam es dabei öfter aus Unkenntnis oder Nachlässigkeit zu schweren und auch tödlichen Unfällen. Es knallte eigentlich dauernd irgendwo, ein glühender Schrapnell-Regen war keine Seltenheit, Phosphor-Granaten gingen stapelweise hoch, allein durch Sonneneinwirkung. Die älteren Leute in den umliegenden Ortschaften prophezeiten ohnehin nicht Gutes:
"Der Berg ist verflucht von all den armen Sündern, die dort am Galgen ihr Leben haben lassen müssen." Der Galgen stand an höchster Stelle Richtung Losheim von fast allen Ortschaften weithin einzusehen.
Betreuer der im Werk ansässigen Arbeiter waren Pastor Dr. Nieder und seine Schwester, Werkspflegerin genannt, heute wohl als Sozialassistentin zu bezeichnen. Eine Schule hatten wir - auch, staatlich anerkannt, vom Werk finanziert, mit Fräulein Lichtherz und 28 Kindern. Wer von ihnen wohl noch leben mag? Nach Kriegsende zogen als erste Besatzer Schottländer mit klingendem Spiel in Formation ins Werk ein. Sie überwachten das Entleeren und Sprengen von Munition aller Art, die immer noch von den Kriegsschauplätzen zurückgebracht und vernichtet wurde.
Am frühen Nachmittag des 28. Mai 1920 (Anmerkung: Berichtigung 29. Mai) rief eine der Telefonistinnen am Fuß der Treppe:
Frau Willems, es brennt im Granatbau, es sieht nicht gut aus!" Zugleich gingen schon in 30 Meter Entfernung die ersten Stapel Granaten hoch. Mama verlor prompt den Kopf, zum Glück kam unser Onkel Wilhelm Hack aus Hallschlag uns zu Hilfe. Er raffte das Nötigste und uns Kinder zusammen und ab gings im Laufschritt zunächst in Richtung Losheim, um den in etwa schützenden Bahnschacht zu erreichen. Hinter uns das brüllende Chaos. Glühende Eisenstücke flogen uns zu Hunderten hinterher, eine halbe Granate ging direkt neben unserer Mutter in die Erde.
Am Abend noch ein starkes Schauspiel
Beim Hause Haep ging es dann quer über die Felder nach Krewinkel, wo ein Steinbruch uns relative Sicherheit bot. Unser Onkel hat uns im Bogen über die Zäune geworfen, aber es ist uns, und allen die folgten, nichts geschehen.
Weiter ging es nach Manderfeld zu unserem Haus. Vom Friedhof aus war das Geschehen im Werk gut zu beobachten, und gegen Abend ging dann mit einer enormen Druckwelle die Blausäure hoch.
Ich muß schon sagen, es war ein grandioses Schauspiel. Vor dem rötlichen Abendhimmel diese tiefblaue Riesenwolke mit weißen Rändern, für Sekunden
durchsetzt von den glühenden Eisenstücken der zerfetzten Behälter. Im Ort sprangen Türen aus den Angeln und gingen ungezählte Scheiben zu Bruch.
Drei Tage hat der Feuerzauber gedauert. Dr. Nieder, seine Schwester, die Feuerwehrleute und noch einige beherzte Männer haben das Werk nicht verlassen, die Brände immer wieder gelöscht, besonders um die Eingänge der Erdbunker, worin noch Tonnen Sprengstoff lagerten. Durch diesen mutigen Einsatz wurde die Umgebung vor noch Schlimmerem bewahrt.
Zu Anfang der zwanziger Jahre ist dann der Versuch unternommen worden, das Werk auf anderem Gebiet wieder zu rentabilisieren. Im verschont gebliebenen mehrstöckigen Neubau starteten die Eifler Industriewerke, Möbel in Serienfertigung. Es müssen wohl Absatzschwierigkeiten bestanden haben, die Produktion hat rapide nachgelassen und wurde wieder eingestellt.
Danach hat man dann Maschinen, Geräte, Abbruchziegel und Kabel verkauft und schließlich lag das Land öde wie zuvor. Bis in den dreißiger Jahren der Westwall gebaut wurde, dessen traurige Überreste heute noch an diese folgenschwere Zeit erinnern. Heute bewirtschaften friedliche Landwirte einen Teil dieser Hochfläche die schon so viel Unruhe erlebt hat, und wir dürfen hoffen, daß der Fluch der Gehenkten auf immer seine Wirkung verloren hat.